Das Paar (Juni 2008)

Sich umdrehen, nö. Im Laufen treten die beiden, Arm in Arm, einen Schritt zur Seite, um ihr Platz zu machen. Einen Schritt im Gleichklang ihrer flachen Gummisohlen auf den Grünstreifen, und sie setzt ihre Fahrt fort, tritt die Pedale in den Boden, während sie noch einen Blick auf ihre unförmigen Allwetterjacken wirft, auf den blonden Zopf, der dem Mann über den Rücken fällt, und die schwarzen, kurz geschnittenen Locken des Mädchens, bevor sie ihr nun doch die Gesichter zuwenden mit diesem Höflichkeitslächeln:

„Morgen.“

„Guten Morgen.“

Der Lenker zittert ein wenig, als sie auf ihrer Höhe angelangt und im selben Moment auch schon wieder an ihnen vorbei ist. Linkerhand, jenseits des Jugendcafés, schiebt sich jetzt die hinter den Hügeln aufsteigende Sonne ins Blickfeld. Sie fährt rechts den Bordstein hinunter, um die Straße da, wo es verboten ist, zu überqueren: Direkt am Bahnübergang und bei offener Schranke und Verkehr aus drei Richtungen. Erhöhte Pulsfrequenz. Tägliche Feuerprobe.

Die beiden schlendern hinter ihr her mit sich vergrößerndem Abstand, in ihr Zwiegespräch und ihre Umarmung vertieft, kein Verbotsschild erreicht ihre Blicke.

Kein Neid, das ist es nicht. Sie ist doch auch verliebt, immer mal wieder taucht so ein verliebter Tag auf. Tatsache! Sie stellt das Fahrrad ab, nimmt das Schloss aus der Halterung, hakt es zwischen die Speichen, gibt den Code ein, sechsstellig, ihr Hochzeitstag. Sie läuft die Stufen hinauf, öffnet die Tür, öffnet die nächste Tür, legt die Tasche auf ihren Platz, überzieht die Stuhllehne mit ihrer Felljacke, weil sie seit neuestem Garderoben misstraut: Seit neuestem muss sie sich beim Anblick von Garderoben einen vorstellen, der im Vorübergehen Jacken aufschlitzt, mit Farbe besprüht, die Ärmel abschneidet, so einen Verrückten, weil manche Leute einfach machen, wonach ihnen gerade ist.

Sie grüßt. Lächelt. Grüßt. Manchmal verzieht sie das Gesicht, kaum ist der Gegrüßte an ihr vorbei. Sie schaltet den Computer an, gibt ihr Passwort ein. Etliche ungelesene E-Mails. Hier und hier angeklickt, und sie hätte eine Reise gewonnen – kein Witz, Sie haben gewonnen! Machen Sie doch einfach mal eine Reise! Kaufangebote. Kundenlisten. Konferenztermine.

Durch die Glaswand sieht sie das Paar über den Gang laufen, vor der Treppe würden beider Wege sich trennen, sie nach oben steigen, er nach unten, sie würden sich küssen und die Weite schmecken und sich lange in die Augen sehen und auch darin die Weite erkennen und sich gegenseitig keine Fragen stellen.

Auch Max hatte einen blonden Zopf gehabt damals auf der Party, als sie plötzlich nebeneinander saßen und gemeinsam an einer Zigarette zogen, immer schön abwechselnd von seiner Hand in ihre Hand, von seinen Lippen zu ihren Lippen, jaa!, und einer die Stimme des anderen einatmete.

Heute genießen sie eher die stillen Stunden. Mit einem Knall landet ein Stapel Ausgedrucktes auf ihrer Ablage.

„Mann, pass doch auf!“ Sie klappt ihre Miniaturlesebrille auf und schiebt sie sich über die Nase.

„Steht dir.“

„Danke.“

„Echt.“

„Ja, is’ ja gut.“

Anfragen Akquisen Auftragsbestätigungen. Zahlenreihen. Mittagessen. Zahlenreihen. Kaffeepause. Über ihren Monitor lässt sie jetzt bunte Bilder scrollen. Eines Tochterschänders schräge Fratze. Die blonde Siegerin eines Topmodelwettbewerbs. Hotels in Costa del Sol, diese Woche so günstig wie nie. Heute ist gestern ist morgen.

Die sehen auch immer gleich aus!, denkt sie, als sie die beiden in der Frühe, der Himmel zieht Schlieren wie geschmolzenes Blei, schon aus der Ferne erkennt: Der Zopf und die kurzen Locken. Die etwas zu großen Jacken. Die Unisex-Schuhe. Und als sie dann beiseite treten auf den Grünstreifen, um ihr Platz zu lassen, wie immer ohne sich nach ihr umzudrehen, überlegt sie einen Augenblick, ob sie – Machen Sie doch einfach mal was Verrücktes –,

aber da sind die Gesichter ihr schon zugewandt mit diesem Höflichkeitslächeln, und dahinter, nur für einen Wimpernschlag, glitzert ein kleiner Funke Spott, nicht der Rede wert, und da gleiten die beiden auch schon an ihr vorüber, und sie schließt erschreckt die Augen vor dem glühenden Hochofen des Morgenrots.

 

(Juni 2008)