Ein Tag in Bremen (2013)

Wenn du dir die Hände gewaschen hast, darfst du das auch anfassen!, sagt Friedrich. Und, nachdem ich meine Hände unter seinen Augen gefühlte zwei Stunden lang im fließenden Wasser abgespült habe: Welches Handtuch du benutzt, ist egal, deine Hände sind ja jetzt sauber.
Kaum verbergen können diese kunstvoll verschlüsselten, geradezu beschwörerischen Formeln seine Not. Unklar ist, wen er mehr beschwören möchte: Mich, doch bitte gründlich zu sein, oder sich selbst, locker zu bleiben. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen und gesagt: Ich weiß doch Bescheid, mein Lieber, mach dir mal keine Sorgen.
Friedrich ist nervös, weil ich plötzlich leibhaftig in seiner Wohnung stehe. Na gut, eigentlich ist er seit Wochen darauf vorbereitet, aber nun geht es doch alles viel zu schnell, und dass ich wirklich von Kiel hierher und vom Bremer Hauptbahnhof mit der Straßenbahn Linie 4 und dann bis in sein Viertel – unfassbar!

Er hat die Nudeln vorgekocht. Dazu gibt er Tomaten- und Zwiebelstückchen in die Pfanne, und ich staune, wie fein er das Gemüse schneidet. Er mache das genauso, wenn er alleine sei, sagt er, und darüber staune ich dann noch mehr. Kochen nur für mich habe ich mir abgewöhnt. Das Einkaufen auch, aber das ist eine andere Geschichte. Zuletzt wird Feta darüber gebröselt, allein vom Duft bekomme ich Hunger.
Ich schlendere durch seine kleine, erst kürzlich bezogene Wohnung. Manches erkenne ich wieder: Die vielen Bücher, ordentlich aufgereiht, viele noch in Originalfolie eingeschweißt. So mag er sie am liebsten. Seine schwarzen Stühle im Thonet-Stil. Sein Küchenbüffet. Das ist aber hoch. Und der Herd auch. Irgendwie alles höher als normal. Steht ja auch alles auf Rollen! Sogar unter Spüle und Waschmaschine sitzt ein Rollbrett.
Zum besseren Beiseiteschieben, erläutert Friedrich, hab‘ ich selber gebaut.
Ich greife mit beiden Armen um seinen Kleiderschrank: Leichtfüßig gleitet der Sechstürer vor und wieder zurück. Ich verstehe sofort: So lässt es sich besser putzen. Ich bin beeindruckt. Auch ich hab’s mit dem Putzen und Aufräumen, nicht nur wegen der produktiven Gedanken, die sich dabei einstellen, sondern weil es kein wirksameres Mittel gegen das innere Chaos gibt, eine Sache, die schon im Tonio Kröger thematisiert wird, wodurch mir eines der seltenen Aha-Erlebnisse meiner Schulzeit beschert wurde.
Das Essen ist fertig und schmeckt. Friedrich sagt: Seit einem Jahr verzichte ich auf Kaffee, Alkohol, Zucker und Fleisch. Zu hundert Prozent. Seitdem kann ich mich wieder besser bewegen.
Was bedeutet das hier?, frage ich, weil Fastenthemen mich noch nie interessiert haben, und zeige auf die beiden Teebecher, beziehungsweise auf die russischen Buchstaben darauf.
Mirnuji, liest Friedrich: Die Becher hab ich geschenkt bekommen, als ich eine Reportage darüber gemacht habe. Mirnuji heißt irgendwas mit Frieden. Ist aber gelogen. Mirnuji, musst du wissen, ist ein total geheimer, russischer Raketenstartplatz, größer als Cape Canavaral und sogar größer als Baikonur. Ich war der erste westliche Reporter, der da rein dürfte. Der Nachbarort heißt übrigens Plesetzk.
In Erinnerung an die Zugreise quer durch Russland gerät Friedrich ins Schwärmen. Vor allem, was die Begleiterin oder Dolmetscherin oder Aufpasserin angeht, je nachdem, wie man ihre Rolle interpretiert: So groß wie ein Baum ist die gewesen, mein Gesicht immerzu in Höhe ihres Busens. Kannst du dir das vorstellen? Und wir beide in einem Schlafwagenabteil ganz für uns allein!
Nein, eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Friedrich ist klein und fast zerbrechlich, was fängt er mit einer baumhohen Frau an? Er erzählt auch von dem russischen Speisewagen, wo es exakt zwei Dinge zu kaufen gegeben habe: Bier und Brot. Darauf genehmigt er sich noch einmal einen Schlag aus der Pfanne, und ich will auch noch einen.
Wir kommen auf sein Buch, sein Lebenswerk, zu sprechen.
Lies drei Sätze, fordert Friedrich mich auf. Er führt mich zu seinem Schreibtisch, auf dem das kiloschwere Manuskript liegt, und hält mir Zettel und Stift hin, während ich vor dem Meisterwerk Platz nehme.
Irgendwelche, aber nur drei! Und sag mir dann, ob sie lesbar sind.
Ich kenne das, diese Sehnsucht nach einem Echo, einem Urteil. Lieber ein negatives als gar keins. Man hat so lange geschrieben und ist so lange allein gewesen. Jetzt nur ein Wort! Am besten von einem relevanten Leser. Wobei in diesem sehr heiklen Augenblick fast jeder Leser relevant wird.
(Ist doch gut so, sagte M., wenn ich ihm nach einer durchgeschriebenen Nacht eine Seite hingehalten und er sie überflogen hatte.) Ich sage natürlich nicht, dass es gut so sei, denn dass dieses Werk gut oder sehr gut oder sogar fulminant ist, weiß Friedrich selbst.
Ist sehr schwer zu lesen, sage ich statt dessen. Ich bin schon voll im Korrekturmodus: Man kommt sehr schwer rein. Drei Genitive in einem Satz – Hallo!, das ist ja schon die höhere Schreibkunst, Leistungskurs Deutsch, wie? Maximal einer pro Satz!, ist meine Devise. Hier: statt Werke der Kunst des 19. Jahrhunderts schreib doch einfach Kunstwerke des 19. Jahrhunderts!
Friedrich sieht mich lange an. Er springt auf, schlägt eine andere Seite in der Mitte des Manuskripts auf und sagt: Lies das, darauf bin ich richtig stolz.
Wirklich ist die Lesbarkeit dieser Passage um einiges besser. Inhaltlich dagegen verstehe ich nur Bahnhof. Ich muss aufpassen, dass ich die Schuld daran nicht mir zuschiebe.
Ich sage: Dyade, kenn ich nicht, ist aber wohl nicht so wichtig, oder? Und lese weiter: Dyade, und drei Zeilen später schon wieder: Dyade. Okay, was ist Dyade?
Friedrich schüttet sich aus vor Lachen, er kann es kaum fassen: Du weißt nicht, was Dyade ist? Du weißt es wirklich nicht? Dyade, das ist die Mutter-Kind-Beziehung!
Dein ganzer Text, sage ich, um Sachlichkeit bemüht: Dein ganzer Text hört sich für mich an wie von einem, der schon zum Frühstück Kant liest.
Friedrich reißt die Augen auf: Ja!, ruft er. Ich lese zum Frühstück Kant.
Weiß ich, sage ich. Eben. Und ich lese zum Frühstück das Schwäbische Tagblatt. Das ist der Unterschied. Deshalb brauche ich so lange für Texte wie diesen hier.
Inzwischen habe ich sieben Seiten gelesen und nichts notiert.
Was du sagst, ist für mich sehr interessant, sagt Friedrich.
Wieso?, frage ich beunruhigt. Du hast doch schon einen Gutachter, du hast eine Lektorin. Du hast schon ABGEGEBEN. Du bist fertig. Wozu brauchst du noch mein Urteil?
Wegen der Lesbarkeit, sagt er. Das ist mein Schwachpunkt.
Friedrich! Du willst nicht noch mal umschreiben. Sag, dass das nicht wahr ist.
Darüber reden wir später, meint Friedrich mit nachsichtigem Lächeln.

Die Zeit ist um, wir müssen zur Straßenbahn. Wir müssen sogar rennen. An der Haltestelle steht ein Typ mit Fahrrad und in Radklamotten. Er studiert den Fahrplan, geistesabwesend fragt er Friedrich nach einem Stift.
Nein!, sagt Friedrich, und klopft auf die zwei Fineliner, deren Kappen gut sichtbar aus seiner Brusttasche ragen. Die verleihe ich nicht, nicht mal meinen Kindern. Sie gehen zu schnell kaputt.
Ist ja gut, sagt der Radfahrer und guckt verärgert weg.
Ich will vermitteln (bescheuerte Angewohnheit) und biete ihm meinen Lippenstift an.
Der Radfahrer starrt mich entgeistert an.
Sie können damit auf Ihren Unterarm schreiben, sage ich.
Was glauben Sie, was dann los ist!, ruft der Typ und hebt sein schreckerfülltes Gesicht zum Himmel: Mit fremdem Lippenstift nach Hause kommen! Pah! Was da los wäre. Fremder Lippenstift! Er kriegt sich gar nicht mehr ein bei der Vorstellung.
Seine Aufregung belustigt mich, auch Friedrich schmunzelt. Friedrich ist schon ewig Single, ich seit neuestem auch. Niemand würde uns blöd kommen, wenn wir mit Lippenstiftspuren nach Hause kämen, weder im direkten noch im übertragenen Sinn. Das ist eigentlich traurig. Bevor ich melancholisch werde, kommt die Straßenbahn. Friedrich zieht ein Ticket. Ich kratze unauffällig an meinen Zähnen, weil ein Stück Tomatenschale dazwischen sitzt. Verdammt, er hat es gesehen!
Angeekelt verzieht er das Gesicht, obwohl er versucht, es nicht zu zeigen. Aber ich kenne ihn schon zu lange. Friedrich ist mein ältester Freund. Demonstrativ putze ich meinen Finger an einem blütenweißen Tempotaschentuch ab. Das ist das Mindeste, was ich in der Situation für ihn tun kann. Ich habe viel Verständnis für seine Spleens. Mehr als er selber. Mehr als für meine eigenen.

*

Zu Tränen rührt mich jedesmal die SchlussSzene von Secretary: Die beiden Protagonisten ziehen gemeinsam ihr Laken glatt. Das ist ein ernstes Ritual, und sie setzen superernste Mienen dafür auf. Gerade als er/James Spader sich umdreht, legt sie/Maggie Gyllenhaal eine Fliege auf sein Kopfkissen. Ein klitzekleines Lächeln umspielt ihren rot geschminkten Mund, und man ahnt, welchen Sturm diese Fliege bei ihm auslösen wird. Man ahnt aber auch, wie wichtig der Tabubruch für ihn ist, man ahnt, was sie da gerade für ihn tut. Die Szene ist voller Zartheit, voller Liebe. Voller Verständnis für Menschen mit Seltsamkeiten, für Grenzgänger. Diese Szene ist zum Niederknien schön.