Danke, Herr Bundespräsident!

Ganz großen Dank an Frank Walter Steinmeier! Als erster deutscher Bundespräsident hat er die zwölf Millionen im deutschen Angriffskrieg gefallenen Soldat*innen der Roten Armee, die getöteten sowjetischen Kriegsgefangenen und verschleppten Zwangsarbeiter*innen geehrt: Die symbolstarke Kranzniederlegung am Sowjetischen Ehrenmal Schönholzer Heide in Berlin Pankow zum Gedenken an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion war aber auch dringend nötig. Nötig in einer Zeit, in der großmäuliges Russlandbashing und öffentliche Russenschelte zum guten Ton zu gehören scheinen.

Unfassbar, aber wahr: Der Mord an sechs Millionen Juden war von der deutschen Nachkriegsgesellschaft der fünfziger, sechziger Jahre verdrängt und in der wirtschaftlich boomenden BRD nahezu vergessen worden. Wenn Steinmeier nun an den 22. Juni 1941, an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion, an die Entfesselung von Hass und Gewalt, an den germanischen Rassenwahn gegenüber Juden genauso wie gegenüber slawischen und asiatischen Völkern der Sowjetunion erinnert, dann kommt man an der Tatsache nicht vorbei, dass wir heute in dem gleichen Ausmaß nur allzu bereit sind zu vergessen.

Hunderttausende sowjetische Soldat*innen starben direkt in den ersten Kriegsmonaten im Sommer 1941, und ebenso viele Zivilisten in der Ukraine, in Belarus, in den baltischen Staaten und in Russland wurden Opfer von deutschen Bombenangriffen. Am Ende waren es unvorstellbare 27 Millionen Tote, die die Völker der Sowjetunion zu beklagen hatten. 27 Millionen Menschen, von Nazi-Deutschland ermordet, erschlagen, ausgehungert oder durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht mit deutscher Gründlichkeit nach der imperialistischen Direktive des „Generalplan Ost“.

Ich kann mich noch gut an die Erzählungen der älteren und alten Männer erinnern, wenn der Wein ihre Zungen löste und sie sich unter sich wähnten. Auch noch 30, 40 Jahre nach ihren Untaten waren unverhohlene Herrenrassen-Ideologie und das Narrativ vom sogenannten russischen Untermenschen der Grundsound ihrer Weltdeutung – die NS-Erziehung hatte sich nachhaltig in die Gehirne der Deutschen eingemeißelt.

Zum Glück glaubten wir ihnen schon als Youngsters nicht. Die Verachtung schob sich zwischen ihre und unsere Generation, ein Graben, der bis heute besteht. Warum sollten wir die gesamte sowjetische Bevölkerung hassen? Was während des Dritten Reiches unter dem Begriff Säuberung an Unmenschlichkeiten gelaufen war (zugunsten deutscher Siedlungspläne), ging nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch die Alliierten und nach der Kapitulation der Wehrmacht in zivilisierter Form als Kalter Krieg weiter – aber ohne uns.

Russisch zu lernen wurde Mode, wir reisten in den Semesterferien nach Russland und interessierten uns für die russische Kultur. Vielleicht war das unsere Art, das von Deutschen verursachte Leid wenigstens anzuerkennen. Unsere Fragen wurden nicht beantwortet von denen, die sie hätten beantworten können. Das musste ja wohl seine Gründe haben. Mag sein, dass wir undifferenziert Schuld zuwiesen. Wir wollten uns nicht auch schuldig machen. Es gab so gut wie niemanden in der Eltern- und Großelterngeneration, der/die nicht nazi-kontaminiert war. Wir wollten nie wieder Auschwitz, und wir wollten nie wieder Krieg. Wir wollten uns keine Feindschaft aufzwingen lassen, für die wir kein Verständnis hatten. Wir wollten die deutsch-sowjetische Freundschaft genauso, wie die Kultusminister der Bundesländer Freundschaft und Austausch mit Franzosen und Engländern aushandelten. Wir wollten ein friedliches Zusammenleben aller Völker, und ganz bestimmt wollten wir keine deutsche Kriegsbeteiligung mehr. Das von Willi Brandt umgesetzte politische Prinzip Wandel durch Annäherung gehört für mich zu den Meilensteinen meines noch kindlichen politischen Bewusstseins. Umso unverständlicher ist mir heute die Merkel’sche, die Maas’sche und die neu-grüne Aggression in Gestalt von Baerbock und Özdemir gegenüber den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Keine Familie gibt es dort, die nicht einen oder mehrere Angehörige(n) durch die deutsche Invasion verloren hat. Das nach acht Jahrzehnten wieder ins Gedächtnis gerückt zu haben, ist Steinmeiers Verdienst:

Mein Eindruck ist: Europa war einer Antwort schon einmal näher als heute. Es gab vor Jahrzehnten, trotz Spannungen und Blockkonfrontation, auch einen anderen Geist, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Ich meine den Geist von Helsinki. Inmitten der gegenseitigen Drohung mit nuklearer Vernichtung entstand ein Prozess, der durch Anerkennung gemeinsamer Prinzipien und durch Zusammenarbeit einen neuen Krieg vermeiden wollte und vermeiden half.
Dieser Weg, der bis zur Schlussakte von Helsinki führte, liegt jetzt fast ein halbes Jahrhundert zurück. Er war weder einfach noch gradlinig. Aber es war ein Weg, der wegführte von der Logik der Eskalation und der Gefahr wechselseitiger Vernichtung. Wenn Sie so wollen, ein langer und steiniger Weg. Aber viel mehr als steinige Wege fürchte ich Stillstand und Entfremdung. […]
Bei allen politischen Differenzen, bei allem notwendigen Streit über Freiheit und Demokratie und Sicherheit muss Platz sein für Erinnerung. Deshalb bin ich heute hier. […] Ich verneige mich in Trauer vor den ukrainischen, belarussischen und russischen Opfern – vor allen Opfern der ehemaligen Sowjetunion.“ (22.06.2021)