Maria erinnerte sich nicht an sie, aber sie konnte sich auch sonst an vieles nicht erinnern. So wusste sie schon wenig später nicht mehr, weshalb Frau Stäuble überhaupt angerufen hatte. Brauchten andere einen Grund, jemanden ans Telefon zu holen, schien diese Fremde sich aus einer Laune heraus bei ihr gemeldet und sofort eine Vertraulichkeit darangesetzt zu haben, die es Maria unmöglich machte, über einen Grund nachzudenken.
„Nicht Stäuble. März, Angelika März hieß ich damals.“
Frau Stäubles Worte erforderten Konzentration. Von lang zurückliegenden Zeiten sprach sie, allein Frau Stäuble sprach davon, aber so, als seien es ihre gemeinsamen Zeiten gewesen, Schulfreundinnenzeiten, und manchmal streute sie Begriffe und Bilder ein, die Maria bekannt vorkamen, die an Vergessenes rührten, weshalb sie auch nicht auf die Idee verfiel zu protestieren – ich kenne Sie gar nicht, wir sind uns niemals begegnet! – das kam ihr einfach nicht in den Sinn. Schweigend hörte sie zu, fiel aus reiner Höflichkeit in Frau Stäubles Gelächter ein, überließ sich ihrer Verwirrung ohne allzu großen Ehrgeiz, diese aufzuklären, denn das erschien ihr zu dem Zeitpunkt vollkommen unnötig.
Vielleicht die Parallelklasse. Das wäre die Erklärung, die Lösung für das zutrauliche Geschwätz, das ihr mehr und mehr zusetzte, ja, so ergab die Angelegenheit einen Sinn, nicht ihre, Marias, Klasse hatte Frau Stäuble besucht, sondern die Nachbarklasse, war also allenfalls auf die gleiche Schule gegangen. Da die andere aber mit Details wie Lehrerspitznamen, Prüfungsthemen, Ausflugszielen aufwarten konnte, Details, die sich nur in der Erinnerung festsetzten, wenn man sich ihnen mit jener Hingabe widmete, wie Frau Stäuble sie an den Tag legte, schien es nahezu ausgeschlossen, dass diese jemals eine Person gewesen war, auf die sich Marias Aufmerksamkeit gerichtet hätte.
Zumal sie, Maria, die Schulzeit, überhaupt die gesamte Zeit des Erwachsenwerdens wie in einem Schlaf verbracht hatte, exakt so kam es ihr vor, wenn sie, wie jetzt, gezwungen war, daran zurück zu denken: Ihre Erinnerungen waren vage, oder sie hatte einfach keine.
Warum sie tatsächlich am Abend des ersten Adventsamstags mit ihrer roten Reisetasche vor Stäubles Haustür stand, konnte sie ebenso wenig erklären wie den Anlass für das Telefongespräch und die schriftliche Einladung von Frau Stäuble. Von Herrn und Frau Stäuble, sie schrieb auch in seinem Namen, von wir und uns schrieb sie, wir würden uns freuen, Dich am kommenden Wochenende – und noch weiter in diesem Stil, man kennt das. Möglicherweise gab es für nichts davon eine Veranlassung. Nachdem die Schwelle bereits übertreten war, blieb ihr nur noch, der Entwicklung der Ereignisse ihren Lauf zu lassen.
Die Stäubles waren alle ganz weiß. Herr und Frau Stäuble samt ihren drei Kindern sahen aus, als seien sie mit ihrer schneeweißen Haut in einen rosthaltigen Regen geraten, der sich nun nicht mehr abwaschen ließ. Die Sommersprossen waren ihr einziger nach außen sichtbarer Makel. Ein Makel, den Maria mit unerklärlicher Befriedigung zur Kenntnis nahm. Sie bekam das schönste Kinderzimmer. Extra für sie war es geräumt worden, doch auf einen Blick war zu erkennen, dass es sich um das Zimmer eines Mädchens, des jüngsten Mädchens handeln musste. Für den Gast war das Bett mit weißer Wäsche bezogen worden, auf der Decke lagen zwei weiße Handtücher und ein weißer Waschlappen.
Maria war allein. Wahrscheinlich würde jeden Moment zum Essen gerufen, vielleicht aber wurde auch später gegessen, sie legte sich auf das Federbett, das mit einem weichen Geräusch unter ihr zusammensackte und sie im selben Moment von allen Seiten umfasste wie der sommerwarme Wulst eines Gummibootes. Sie schloss die Augen, bereit, die Ruhe zu empfangen, die solche Augenblicke für gewöhnlich mit sich brachten, doch da merkte sie, dass es in dem Kinderzimmer keineswegs ruhig zuging. Über ihr lief jemand hin und her, die Schritte klangen nach gesundem Schuhwerk, die Schritte klangen, als schlössen sie Zweifel aus, wohin sie führten und warum, das ganze Mauerwerk war erfüllt davon.
Maria stand auf und begann, das Zimmer zu durchsuchen, Schubfächer aufzuziehen, mit der Hand durch Dinge zu fahren. Dabei fiel ein Kästchen herunter. Genau genommen handelte es sich um eine Minikommode mit lauter winzigkleinen Schubladen, die auf dem Fichtenholzschreibtisch gestanden hatte und ihr, da eine der Schubladen klemmte, plötzlich aus den Händen rutschte. Heraus fielen Haarspangen, Pferdebilder, ein rosa Perlenarmband. Und ein fratzenförmiges Steinamulett – eine ekstatische Fratze, eine archaische Steinschnitzerei, die sich mit uraltem Menschheitsgelächter nicht nur über das liebliche Mädchenzimmer lustig zu machen schien. Augenblicklich stellte Maria das Kästchen zurück, nachdem sie alles wieder eingesammelt und eingeräumt hatte, doch die Frontseite war beschädigt, an einer Ecke fehlte sogar ein Stück Holz.
Beim Abendessen, zu dem sie sich kurz darauf einfanden, verschwieg sie ihr Malheur, obwohl sie ununterbrochen daran dachte. Sie beteten. Herr Stäuble sprach das Komm Herr Jesus, die anderen senkten die Köpfe. Kaum sagte er „Amen“, fuhren die Köpfe ruckartig hoch, alle fassten sich an den Händen und sagten irgendeinen Spruch. Alle lächelten ihr zu. Besonders Frau Stäuble lächelte. Sie reichte den Brotkorb herum und die mit Radieschen dekorierte Aufschnittplatte, sie bat darum zuzugreifen. Die jüngste Tochter maß den Gast mit langen Blicken. Maria hatte sich ein Brot belegt und war eben im Begriff hineinzubeißen, als das Kind mit unerklärlich lauter Stimme und weit aufgerissenen Augen verkündete, dass es nichts übelnehme, aber es habe eben etwas aus seinem Zimmer geholt und sofort gesehen, was passiert sei, Maria hätte die Sache gestehen und sich entschuldigen müssen, jedoch wolle es sich nicht beklagen, es wolle ihr verzeihen.
Herr Stäubles Gabel durchbohrte eine Tomate. Er warf einen besorgten Blick vor sich auf das Tischtuch, kauend dann, mit ernstem Lächeln, nickte er der Tochter zu. Alle lächelten wieder und verziehen Maria. Es fielen nur freundliche Worte. Dem Sohn fiel ein Stück Gurke herunter. Ehe er unter dem Tisch verschwand, um es aufzulesen, zischte er Chicago! durch die Zähne, was, wie die ältere Schwester erläuterte, das böse Wort ersetze, eine Notlösung, auf die amerikanische Gesinnungsfreunde sie gebracht hätten.
Nach dem Essen trug jeder etwas in die Küche. Die Älteste setzte sich ans Klavier und spielte Pour Elise, sie spielte mit nach allen Seiten hin wogendem Oberkörper und kam ohne Fehler durch. Anschließend begleitete Herr Stäuble sie bei einem anderen Stück auf der Geige, während Frau Stäuble mitsummte und die Kleine versuchte, ihnen auf der Blockflöte zu folgen.
Auf dem Wohnzimmertisch stand eine Karaffe mit Leitungswasser, rings darum sechs Gläser. Das Wasser wurde ausgeschenkt. Frau Stäuble nahm mit den beiden Mädchen auf dem Sofa Platz, wohl, um Maria den freien Sessel zu lassen, auf dem anderen saß schon Herr Stäuble, indessen der Sohn sich einen gepolsterten Fußschemel herangezogen hatte.
„Kannst du dich an Frau B. erinnern?“, fragte Frau Stäuble in die Stille hinein. Daran konnte Maria sich genau erinnern, mit der Erwähnung dieses Namens aus einer anderen Zeit stieg ein Gesicht mit schmalem Mund und wasserhellen Augen vor ihr auf, zu sehr war die Affäre aus dem gewöhnlichen Alltag herausgefallen. Von einem Tag auf den anderen war Frau B. nämlich spurlos verschwunden, und jemand anderes hatte den Unterricht ihrer Klasse übernommen, ohne dass eine Erklärung von höherer Stelle erfolgt wäre. Allerlei Gerüchte hatten die Runde gemacht, von denen eines sich verfestigte, zwar nicht aufgrund von Beweisen, doch dadurch keineswegs weniger wirkungslos. Diesem Gerücht hatte Maria damals schon nichts als ein Achselzucken abgewinnen können, und heute, aus der Distanz von zwei Dekaden, kam es ihr noch abwegiger vor.
„Diese, hm, Geschichte“, sagte Frau Stäuble und streifte Maria mit einem vielsagenden Blick.
„Aber so hat es sich doch überhaupt nicht zugetragen!“ In plötzlicher, zwanzig Jahre verspäteter Erregung warf Maria die Arme vor, als ließen sich Frau Stäubles die Jahre überdauernden Anschuldigungen auf die Weise abwehren. „Ich war schließlich dabei!“, ergänzte sie, da sie wusste, in dem Punkt ihrer Gastgeberin etwas vorauszuhaben. Doch Frau Stäuble ließ sich von derlei Einwänden nicht beirren:
„Sie auch. Das vor allem!“
Dass Frau B. in der fraglichen Situation mitten unter ihnen, ihren Schutzbefohlenen, gewesen sei, nackt unter Nackten, war von verschiedenen Stellen behauptet worden. Niemals hatte Maria Einspruch dagegen erhoben, so bedeutungslos war ihr die Falschaussage erschienen, so absurd angesichts der Tatsache, dass man diejenigen, die es wirklich wissen mussten, wie beispielsweise sie, doch nur hätte zu fragen brauchen, um der Wahrheit zum Recht zu verhelfen, unmöglich konnte eine so einfach zu entlarvende Lüge solche schwerwiegenden Folgen herbeiführen.
„Du irrst dich. Was du da behauptest, ist falsch.“ Wie um Beistand zu erbitten, sah sie sich nach den Stäuble-Kindern um, doch keines der drei fing ihren Blick auf.
„Irrwege“, stellte Frau Stäuble klar und sprach nicht aus, was für Irrwege sie meinte. In ihrer Stimme schwang eine Spur von Bedauern, von Bedauern mit Maria mit. Der Sohn bekam einen Hustenkrampf. Frau Stäuble sprach nun, unter dem Anschein äußerster Uneigennützigkeit, vom Heilsweg Gottes und von dessen Mitstreitern, die es nicht duldeten, dass Verderbtheiten wie jene der Frau B. sich seiner Vollendung entgegenstellten. Ihre Worte klangen nach Aufrichtigkeit, sie klangen wie eine Einladung, die speziell an sie, Maria, gerichtet war. Die Stäuble-Kinder und Herr Stäuble sahen vor sich hin, Einigkeit schien über das Thema zu herrschen, überhaupt schien der Heilsweg Gottes ein geläufiger Gesprächsstoff, eine Beobachtung, deretwegen Maria einen Moment grundloser Schüchternheit überwinden musste, gerade so, als sei es auch für sie an der Zeit, sich endlich dieser Sache zu widmen.
Herr Stäuble schenkte noch eine Runde Wasser aus. Ohne Überleitung begann er von der Prophetie zu sprechen, oder verstand nur Maria den Zusammenhang nicht, die Stäubles waren begeistert von der Prophetie und dass alles darin sich bewahrheitete, zum Beweis schnappte die Älteste sich die Bibel und begann aus dem neunten Jesajakapitel zu lesen, das die Stäubles auswendig kannten, denn sie sprachen ganze Passagen mit, das heißt, die Stelle wurde nur für sie, Maria, vorgelesen, um sie anschließend mit der Weihnachtsgeschichte zu vergleichen. Immer noch konnten sie es nicht fassen, dass der Prophet das Christuskind vorausgesehen hatte. Und tatsächlich war ja bald Weihnachten, wie Maria im selben Augenblick einfiel, aber der Prophetie der Stäubles haftete etwas Dunkles, Bedrohliches an und hatte mit Weihnachten gar nichts gemein.
Maria warf ein, dass alles Prophetische wahrscheinlich sekundäre Einfügung sei, sie hatte darüber mal einen Artikel gelesen und war entschlossen, ihre Kenntnisse unter Beweis zu stellen, doch davon wollten die Stäubles nichts wissen. Herr Stäuble war Theologe, aber einer, der auf dem rechten Pfad geblieben war, der die Bibel nicht auseinander nahm, der der Wahrheit ins Auge blickte, selbst wenn sie schwierig war, er hätte das mit dem Kästchen sofort gebeichtet.
Eine Pause trat ein, in der niemand sprach. Alle sahen zu dem Gast auf dem Sessel, als wollten sie die Wirkung von etwas absehen, das Maria nicht bestätigen konnte. Hastig trank sie einen Schluck aus ihrem Glas, stellte es umständlich zurück, indem sie es über die Tischplatte schob, wodurch ein schleifendes Geräusch entstand, und verschränkte die Finger ineinander.
„Darüber werden wir morgen früh nachdenken“, sagte Frau Stäuble, jeden Anschein von Drohung weglächelnd.
„Stille Stunde“, erklärte Herr Stäuble. Er fixierte Maria, wie um zu ergründen, ob sie ihn verstand.
„Um vier in der Frühe.“ Der Sohn grinste, fasste sich jedoch sofort wieder.
„Kannst ruhig mitmachen“, rief das Kind, dessen Geheimnis Maria auf die Spur gekommen war, über den Tisch.
„Ach!“, seufzte die Schwester. Vielleicht, weil sie den Vorschlag der Kleinen für allzu sinnlos erachtete, weil, ohne es selbst zu wissen, ihre Entscheidung über Maria schon gefallen war, und nach dem Klang ihres Seufzers zu urteilen, fiel die nicht eben günstig aus.
Marias Blick folgte den Linien des Riemenparketts. „Das würde ich gerne tun“, hörte sie sich sagen.
Die Stäubles nickten. Auf allen fünf Gesichtern unter dem Schein der Wohnzimmerlampe leuchtete der Entschluss zu Wohlgefallen.
„Wir wünschen Ihnen eine Gute Nacht“, sagte Herr Stäuble. Maria, die bis dahin keinerlei Anstalten gemacht hatte zu gehen, erhob sich sofort und verließ den Raum, indem sie die Augen ihrer Gastgeber im Rücken spürte.
„Träum schön“, schrie das Kind hinter ihr her.
Durch das unbeleuchtete Treppenhaus lief sie nach unten. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte sie sich auf das Fensterbrett und sah durch die beschlagene Scheibe nach draußen. Zu ihrer Verteidigung wusste sie nichts vorzubringen. Sie wusste nicht einmal, warum sie sich verteidigen sollte gegen eine Familie, deren Häute weiß und deren Blicke von unnachgiebiger Güte waren und deren Gesten nichts als Gastfreundschaft verhießen.
Sie zerrte an ihrem Rollkragen. Woher kam die Musik? Als sie das Ohr an die Scheibe legte, denn die Fensterflügel ließen sich aufgrund einer Kindersicherung nicht öffnen, erkannte sie Stücke von den Ramones, den Strokes, genau ihre Musik, und wie sie jetzt bemerkte, drang sie vom gegenüberliegenden Haus her, einem hell erleuchteten Bungalow, hinter dessen Fenstern eine Frau in einem zitronenfarbenen Minikleid tanzte.
Mit beiden Händen hielt Maria die Vorhänge weit auf. Über ihr, jenseits der Zimmerdecke, setzten wieder die Schritte ein, das Getrampel einer fünfköpfigen Familie, irgendwann würde es aufhören, doch es ging immer weiter, verteilte sich über sämtliche Zimmer und Ebenen, ein Marathon zwischen Küche und Bad und Bad und Schlafzimmern, möglich, dass sie sich über sie, über Maria, deren Läuterung noch nicht nachgewiesen war, verständigten oder über ihre eigenen Anstrengungen, die sie um Marias Heilsweges Willen unternahmen, im Takt ihrer Urteile schienen sich die einzelnen Schritte in einem Prasseln wie von Applaus aufzulösen.
Maria tastete über das Fensterkreuz. Entgegen der Jahreszeit musste es draußen warm sein. Im Garten des Bungalows blühten unter Lampions und von Fackeln beschienen bunte Blumen. Jetzt sah sie, dass noch viel mehr Menschen dort drüben tanzten, eine Gesellschaft feierte ein Fest, eine Party, Gelächter und Gesang flogen herüber, die Frau in dem gelben Kleid trat mit einer Bowleschale aus der Terrassentür heraus genau in dem Moment, als das Glühen der Sterne in einem Sonnenstrahl aufging und sich gleichsam tausendfach vervielfältigte.
Am Luftzug erkannte Maria, dass jemand die Tür geöffnet hatte. Sie drehte sich um, war Frau Stäubles Blick ausgesetzt, wandte sich schnell wieder ab. Dass Frau Stäuble die Tür einen Spalt breit aufhielt, um mit jemandem, der dahinter stehen musste, in Verbindung zu bleiben, sah sie nur aus den Augenwinkeln. Vor ihr jedoch, auf der jetzt sommerhell beschienenen Terrasse, zog das Aroma der Bowle einen Schwarm himmelblauer Schmetterlinge nach sich wie einen Schleier.
„Ich rate Dir“, begann Frau Stäuble, die sich ihr nun voll zuwandte. „Sammle dich …, das erkennen wir …, desto schlimmer …, natürlich billigen wir …, haarfeine Unterschiede …, nutzlose Zeit …, und du gehörst zu denen …, einmal entschieden …“
„Setz dich doch“, sagte Maria, indem sie mit der Fußspitze die Handtücher vom Bett stieß, ohne das Fenster oder das, was dahinter lag, aus den Augen zu lassen.
Als hätte sie nur darauf gewartet, trat Frau Stäuble ein, und Schritte, es waren Kinderschritte, entfernten sich von der Tür. Die Matratze knirschte unter Frau Stäubles Gewicht, bevor sie die Füße nebeneinander stellte.
Hinter dem Schreibtisch, auf dem das defekte Kästchen stand, ragten dunkel die Zimmerwände auf. Frau Stäuble schob ihre Füße noch näher zu Maria hin.
„An der Wahrheit“, sagte sie, „kommst du nicht vorbei!“
Drüben wurden Gläser gefüllt, blitzend fing die Kelle einen Sonnenstrahl ein.
Immer noch hielt Maria den Vorhang auf. „Bist du je in einer Sauna gewesen?“, fragte sie.
„Mach es mir nicht unnötig schwer.“
„Und?“
„Niemals. Nein.“
Maria legte die Hand an die Scheibe und spähte darunter hindurch. Die Frau in dem gelben Kleid kreiselte mit ausgebreiteten Armen um sich selbst. Allmählich liefen ihre Bewegungen aus, bis sie still stand. Sekunden vergingen. Die Frau schob den Kopf vor, auch sie legte jetzt ihre Hand über die geblendeten Augen und machte einen Schritt auf Maria zu. Im Hintergrund ging geduldig Frau Stäubles Atem.
Maria ließ die Vorhänge los. Sie tastete nach dem Fenstergriff. Frau Stäuble stand vom Bett auf. Wie einen Trichter legte die Frau in Gelb beide Hände um den Mund. Die Hand, die sich auf Marias Schulter legte, wollte Treuherzigkeit ausdrücken. Der zitronenfarbene Chiffon des Kleides, kein anderer Stoff fällt so leicht, rutschte ihr über den Arm, als die Frau zu winken begann. Frau Stäubles Hand rutschte unter Marias Haare und weiter zum Hinterkopf hinauf, wo sie sich festkrallte.
Mit einem Schlag flogen die Fensterflügel auf. Maria setzte über die Brüstung, Frau Stäuble sprang ihr nach.
Unter ihren Füßen flog ein vertrocknetes Kräuterbeet vorbei, dann nur noch Rasen. Als sie die Hecke erreichte, wurden Marias Schritte langsamer. Frau Stäuble hielt ihr Tempo.
Maria maß die Hecke mit den Augen.
„Lauf!“, schrie die Frau auf der anderen Seite. Immer noch machte sie wilde Zeichen.
Auch Herr Stäuble und die Kinder hatten die Verfolgung aufgenommen. Maria lief die Hecke ab, suchte in dem dichten Geäst vergeblich nach einem Loch, die Stäubles immer hinterher, dem Trampeln und Keuchen nach nur noch wenige Meter von ihr entfernt.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Sie nahm die Hecke mit einem Satz. Die Gesichter, die sich ihr, die noch im Flug war, zukehrten, spiegelten Ungläubigkeit und Staunen wider. In hohem Bogen hob ein aufbrandender Applaus sie hinüber, trug sie, zog sie vorwärts. Und wieder rannte sie über Rasen, an einem leeren Pool vorbei, auf dessen Grund Disteln und Dornen wucherten.
Besser nicht umdrehen, stattdessen weiter rennen mit ausgebreiteten Armen, bis auch der Pool hinter ihr lag.
Gelber Chiffon fiel über ihre Augen. Arme streckten sich ihr entgegen, ein Cocktail kippte kühl über ihre Schulter, ihr Herz raste, Gelächter, viele der Gesichter bekannt, zwanzig Jahre älter gewordene Mädchengesichter, ja, sie kannte sie alle, auch die Frau in Gelb. Immer noch flog ihr Atem, der Cocktail roch süß und scharf und klebte in ihren Haaren.
Sie alle waren dabei gewesen. Alle hatten sie durch ihr Schweigen Frau B. geschadet, die nichts davon vergessen haben würde, so wie keine von ihnen die vermeintliche Affäre vergessen hatte und je vergessen würde: Frau B., ihre Klassenlehrerin, die nicht eine Sekunde lang mit ihnen in der Sauna gewesen war, egal, was andere, ihr Übelwollende, damals behauptet hatten.
Endlich drehte Maria sich um. Hinter der Hecke, im Schatten, standen, wie Verführer, die fünf Stäubles.
(Für meine Kinder Tobias und Charlotte. Für Frau B., meine ehemalige Klassenlehrerin in Essen-Werden, der dies zugestoßen ist, ohne dass jemand ihr beigestanden hätte. – Tübingen 2008)