Eine Meinung (2013)

Samstag. „Guck mal, da ist Andreas‘ Mama!“, ruft das Kind und presst die Nase an das Zugfenster. Wir stehen noch im Stuttgarter Bahnhof und warten auf die Abfahrt nach Tübingen.
„Wo isch dem Andreas sei‘ Mama?“ Die Mutter des Kindes beugt sich zum Fenster vor.
„Da, Andreas‘ Mama!“, wiederholt das Kind.
Die Mutter guckt intensiv: „Tatsächlich, dem Andreas sei‘ Mama“, sagt sie.
Als unter Schwaben lebende, sogenannte Norddeutsche bin ich ein wenig geschädigt, was mein Verhältnis zum Dialekt angeht. Manchmal gebe ich das auch zu. Auch, wenn ich mich damit bei dem einen oder der anderen Mitbürger*in unbeliebt mache.
Ich bin der Meinung, dass Eltern ihrem Kind die Grammatik nicht vorenthalten sollten. Dies zu bekennen, kostet mich keinen Mut. Niemand wird mich dafür verfolgen, verprügeln oder töten. Die demokratische Verfassung unseres Rechtsstaates schützt mich davor. Und wenn ich feststelle, dass meine Meinung falsch war, darf ich sie ungestraft ändern, und auch dann passiert mir nichts. Ich meine, es ist nicht GEFÄHRLICH, eine Meinung zu haben, selbst dann nicht, wenn es die falsche ist. Ich finde, es ist besser, eine falsche Meinung zu haben als gar keine.
Meine Vermutung: Mit steigender Relevanz der virtuellen Kommunikation werden die Leute zunehmend meinungslos. Zugeknöpft. Unauthentisch. Die eigene Meinung wird zur Privatsache erklärt. Und das Private ist schon lange nicht mehr politisch im Sinne von: die Allgemeinheit betreffend.
Die Angst vor der Preisgabe des Privaten hat eine dramatische Wende im Umgang mit der Öffentlichkeit ausgelöst. Mit der Offenheit. Man ist nicht mehr offen. Ist ja auch wenig angezeigt. Jedes Partyfoto lässt sich von potentiellen Arbeitgebern auswerten, jede Info über Hobbies, Alter und Geschlecht kann unlautere Sexopas auf den Plan rufen, jede Unvorsichtigkeit im weltweiten Netz macht angreifbar. Jeder ist für sich ein geschlossenes System, von dem allenfalls Belanglosigkeiten wie Katzen- und Fressfotos oder die eine oder andere anonyme Bosheit ihren Weg nach draußen finden.
Die meisten Botschaften werden zweckgebunden online gestellt und nicht, um auf die Weise eine persönliche Erfahrung oder Meinung weiträumig zur Diskussion zu stellen und vielschichtige Antworten darauf zu empfangen. Dem Adressaten oder Adressantenkreis soll ein Produkt angepriesen, ein Denkzettel verpasst, eine Meinung aufoktroyiert werden. Am besten eignen sich dafür Sensationen, denn die Sensationslüsternheit einer am  schnellen Konsum orientierten Gesellschaft ist ein Fass ohne Boden.
Eine unangenehme Begleiterscheinung ist der Abnutzungseffekt. Sextapes von diversen ‚Stars‘ lösen kaum noch Reaktionen aus, weil man mit jeder Wiederholung mehr die Zweckgebundenheit hinter den Bildern so schrecklich deutlich erkennt. Angeblich wird die nackte Paris Hilton in dem Video ihres Ex-Lovers von eben diesem gevögelt, was ja eigentlich so niemand sehen will, aber Scham und Erschrecken bleiben trotzdem aus. Man kennt das schon, bald werden solche Bilder zum normalen Info-Set von Leuten mit Aufmerksamkeitsdefizit gehören. Das Private ist banal geworden.
Und wie lässt sich dann noch über Privates sprechen? Ich meine wirklich: Sprechen. Mit den Maßstäben der Online-Kommunikation gehen die Maßstäbe der direkten Kommunikation verloren. Per SMS die Beziehung aufzukündigen ist eben viel leichter, als die unangenehme Botschaft von Angesicht zu Angesicht loszuwerden. Regt sich darüber noch irgendjemand auf? In welchem Jahrhundert leben wir denn? Ist das nicht inzwischen normal?
Nee, finde ich nicht. Ganz ehrlich. Das geht gar nicht. Das ist meine Meinung. Das ist nämlich feige. Genauso wie es nicht geht, intime Bilder als Werbematerial in eigener Sache oder als Verrätermaterial gegen andere zu missbrauchen – und so ganz nebenbei noch den Sex zu entwerten. Na ja, und ich finde es eben auch falsch, seinem Kind keine Grammatik beizubringen. Okay, ich bin jetzt ein wenig vom Thema abgedriftet. Es geht mir einfach darum, eine Meinung zu haben. Und die auch zu vertreten. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht sagen.