Papst Franziskus hat die Welt davon in Kenntnis gesetzt: Ab Juni dieses Jahres sind katholische Priester und Ordensleute dazu verpflichtet, Erkenntnisse über Missbrauchsfälle kirchenintern zu melden. Das ist das Ergebnis des Missbrauchsgipfels im Januar in Rom.
Die Meldepflicht bezieht sich sowohl auf konkrete Fälle als auch auf Vertuschungsversuche derselben. Damit auch Opfer unbürokratisch die klerikalen Täter anzeigen können, verpflichtet Papst Franziskus in seinem Schreiben die Bistümer, bis Juni 2020 „ein oder mehrere feste Systeme [zu] bestimmen, die der Öffentlichkeit leicht zugänglich sind, um Meldungen einzureichen. Dies kann auch durch die Errichtung einer eigenen kirchlichen Behörde geschehen.“
Für alle, die dieses Gesetz jetzt für einen Wahnsinnsfortschritt halten, ist das Folgende der Bekanntmachung ein Schock: Staatliche Stellen müssen explizit nicht informiert werden!
Was ist das päpstlichen Dekret dann wert? Und vor allem: Was werden Missbrauchsopfer von der Neuregelung halten?
„Während diese Verpflichtung bis dato in einem gewissen Sinne dem persönlichen Gewissen überlassen war“, erklärt der Chefredakteur der Kommunikationsabteilung des Vatikans, Andrea Tornielli, „wird sie nunmehr zu einer universell gültigen Rechtsvorschrift.“
Was aber, wenn der Ordensbruder, der seinen Ordensbruder verdächtigt, selbst ein schlimmer Finger ist? Wenn der jeweils übergeordnete Bischof, der laut kirchenrechtlicher Neuregelung für die Ermittlung zuständig ist, dem Täter durch irgendwelche Seilschaft verbunden bzw. verpflichtet ist? Oder, noch schlimmer, wenn überhaupt das Bewusstsein fehlt, dass Missbrauch eine Straftat ist?
Denn weiter unten, in Art. 10 § 1, enthält das Gesetz noch zwei bemerkenswerte Sätze: „Ausgenommen den Fall, dass die Meldung offenkundig haltlos ist, bittet der Metropolit das zuständige Dikasterium umgehend um den Auftrag, die Untersuchung einzuleiten. Sofern der Metropolit die Meldung für offenkundig haltlos erachtet, informiert er den Päpstlichen Vertreter [auch] darüber.“
Warum wird hier die Möglichkeit der offenkundigen Haltlosigkeit gleich zwei Mal unmittelbar hintereinander erwähnt?
In jeder Rede sollte das, was dem Redner als besonders relevant erscheint, zwei bis drei Mal geschickt platziert werden, Anfängerseminar Rhetorik. Die Möglichkeit der offensichtlichen Haltlosigkeit wird dem kirchenbehördlichen Melder hier direkt in den Mund gelegt. Spätestens an dem Punkt wird deutlich: Man muss schon mit extremer Gutgläubigkeit geschlagen sein, um auf ein lauteres Verfahren der durch tausendfache Missbrauchsfälle diskreditierten Kircheneinrichtung zu hoffen.
Als ich den Journalist Jan Schmitt für mein Buch Lass uns über den Tod reden interviewte, erzählte er mir, auch nach Jahren noch sichtlich aufgewühlt, vom Selbstmord seiner Mutter Mechthild Schmitt. Mit 58 Jahren hatte sie sich mit Tabletten vergiftet und ihm eine Botschaft hinterlassen. Auf einem Tisch arrangierte Fotos und Tagebücher sowie ein persönlicher Brief an ihn forderten ihn direkt dazu auf, sich mit ihrem Tod – und damit mit ihrem Leben – zu beschäftigen. Schnell kam er im Laufe der Recherche darauf, dass seine Mutter seit ihrem neunten Lebensjahr über mehrere Jahre von einem katholischen Priester sexuell missbraucht worden war.
Der Priester hatte sich ein Ritual ersonnen: Nach vollbrachter Tat legte er die Beichte ab – gemeinsam mit dem kleinen Mädchen, seinem Opfer: „Für das Ritual, mit dem der Pater sich und meine Mutter jedes Mal von ihrer Schuld befreite, legte er sich eine Stola um, beide mussten sich niederknien und Gott um Vergebung bitten, sowohl um seine als auch um ihre.“ (S. 35)
Damit entlastete er sein Gewissen – bis zum nächsten Mal. „Der Schuld-Trick hat ein Leben lang funktioniert“, notierte Schmitts Mutter in ihrem Tagebuch (ebd.).
Das neue Papst-Dokument verfügt auch über die „Sorge für die Personen“, damit sind die Opfer gemeint. Art. 5 § 1 besagt:
„Die kirchlichen Autoritäten setzen sich dafür ein, dass diejenigen, die sagen, verletzt worden zu sein, zusammen mit ihren Familien mit Würde und Respekt behandelt werden.“ Die Kirche habe ihnen „Annahme, Gehör und Begleitung“ zu bieten, „spirituelle Betreuung“ sowie „medizinische, therapeutische und psychologische Betreuung entsprechend dem spezifischen Fall“.
Für Schmitts Mutter kommt dieser Passus zu spät. Von Würde und Respekt konnte sie nur träumen, nicht nur seitens der katholischen Kirche, sondern auch ihrer Familie. Bis zum Schluss bemühte sie sich mit allen Mitteln um die seelische Verarbeitung des an ihr begangenen Verbrechens. Vergebens, letztlich sah sie nur im Suizid die endgültige Lösung für sich selbst.
Jan Schmitt hat den Priester, der inzwischen in einem kirchlichen Altersheim lebte, aufgesucht. „Hoffentlich hat Mechthild sich nicht meinetwegen umgebracht!“, sagte der 92-Jährige zu dem erwachsenen Sohn seines Opfers, und dass er ihr im Himmel begegnen werde (S.42).
Ja, darauf wird Mechthild Schmitt den allergrößten Wert gelegt haben, den kriminellen Gottesmann in der Ewigkeit wiederzutreffen. Spricht da ein Restgewissen aus seinen Worten oder nur der intellektuelle Wille zum Gewissen? In jedem Fall erbärmlich. In jedem Fall eine Bankrotterklärung für seinen getreuen Arbeitgeber, die katholische Kirche, die bis zum Schluss zu ihm gehalten hat.