Programmatisches (2014)

Wie weit darf die/der Autor*in  sich öffnen, was ihre inneren Vorgänge angeht?

Ich denke, sehr weit. Von einer Autorin oder allgemein Künstlerin erwarte ich, dass sie sich zeigt. Das erwarte ich übrigens auch von jeder Freundin, von jedem Freund. Wer nichts von sich zeigt, wer nicht ab und zu mal die Hosen runterlässt, langweilt mich ziemlich schnell. Deshalb erwarte ich vorzugsweise von einer Autorin Mut, und wenn schon keine Kamikazegesinnung, so doch eine prägnante Lust am Ausleuchten eigener und fremder Bewusstseinsgrenzen.

Im Unterschied zu anderen Menschen sollte die Künstlerin sich bis an die Außenränder des Erfahrbaren vorwagen. Sie sollte einen Schritt weiter gehen als das Übliche. Ziel des künstlerischen Schaffens ist es, Grenzerfahrungen sichtbar zu machen und sie künstlerisch umzuwandeln. Dem Extremen wird im Kunstwerk Gestalt verliehen. Das Kunstwerk ist damit die Frucht eines geistigen Risikos, dem sich die Künstlerin aussetzt.

Das Kunstwerk soll nicht unbedingt unterhalten, sondern vielmehr faszinieren und den Rezipienten gefangen nehmen. Da die Künstlerin als unabhängige Erforscherin geistiger Gefahren das Vorrecht genießt, exzentrischer und extremer zu leben und zu denken als der normale Bürger, darf auch ihr Werk das Normale, das gemeinhin Sagbare überschreiten.

Täte es das nicht, wäre es keine Kunst, sondern Kunstgewerbe.

Es geht um eingeschränkte Authentizität. Jeder Text, wie überhaupt jedes Kunstwerk, ist das Ergebnis einer gefilterten, nicht einer unmittelbaren Erfahrung. Uneingeschränkte Authentizität kann wirklich nerven. Tagebücher zum Beispiel. Oder Träume. Ich will es einfach nicht wissen, was andere Leute träumen. Zu viele unbearbeitete Informationen werden darin preisgegeben, die nicht mein Interesse wecken, sondern meine Abwehr.

Ein literarisches Blog ist, wie jedes literarische Kunstprodukt, gefiltertes Erzählen. Mehr als bei einem Buch besteht beim literarischen Blog jedoch die Gefahr der zu hohen Authentizität, denn die Verfasserin weiß nichts über ihre Rezipient*innen. Sie sind nicht sichtbar und daher nicht einschätzbar.

Hat sie überhaupt welche?

Habe ich welche?

Liest jemand mein Blog? Ich weiß es nicht. Das könnte mich hemmungslos machen, was das Preisgeben betrifft, es gibt mir aber auch eine große Freiheit. Auf niemanden muss ich gezielt hinschreiben. Auf niemanden muss ich Rücksicht nehmen. Wie meine Texte aufgenommen werden oder auch nicht, spielt für mich keine Rolle. Vielleicht habe ich keinen einzigen Leser, mit dem ich meine Gedanken teile.

Vielleicht aber doch?

In der Phantasie, dass es da jemanden gibt, der meine Blogeinträge mitliest, liegen der Reiz und die Verantwortung, die Hosen gegebenenfalls doch wieder ein Stück hochzuziehen.

Oder sie ganz runterzulassen.