Als die fünf von Procol Harum die Bühne betreten – schwarze Silhouetten vor gleißendem Scheinwerferlicht – scheinen sie direkt über den Abgrund zu springen, der seit Wochen zwischen mir und dem Rest der Welt klafft.
Ich zucke zurück. Zu sehr habe ich mich an diese Perspektive gewöhnt, als dass ich jenseits des Abgrunds noch etwas anderes als nur mehr verwischte Konturen erwarte. Sie machen keine Mätzchen und legen gleich los. Chris, der neben mir steht, hat das Kinn in eine Hand gestützt, als säße er immer noch vor seinem Bildschirm. In der anderen hält er eine Bierflasche.
Garry, we love you!, ruft einer von hinten.
Ich weiß nicht, ob Garrys schneidende Stimme cool ist oder mir auf die Nerven geht. Aus alter Gewohnheit checke ich sie alle fünf durch, weil Frauen das so machen auf Rockkonzerten, sie stellen Vergleiche an, welchen von den Heros sie abschleppen würden, wenn sie könnten, ich glaube, Garry ist der Attraktivste. Der Gentleman, der Geläuterte, mit silbergrau zurückgekämmtem Haar und dunklem Existentialistenanzug sitzt er oberrelaxed am Piano.
Sein Gegenpol ist Geoff Whitehorn, dieser Zappelphilipp. Die beiden harmonieren in einer Weise, die weniger auf Routine denn auf Spaß deutet. Sie schieben sich gegenseitig die Klangschnörkel zu wie andere Leute sich Witze erzählen. Whitehorn schneidet bemerkenswerte Grimassen. Reißt den Rachen auf, verzieht ihn zu einem gigantischen, jeden Gesichtsmuskel bis zum Äußersten strapazierenden Lachen, spitzt wenige Sekunden später die Lippen, um gleichzeitig die Augenbrauen in Schräglage zu stellen und gen Decke zu schielen wie der leidende Christus höchstpersönlich. Es gibt trotz allem noch gute Momente, das sollte man nie vergessen. Der erste Beifall tobt durch die blutrot gestrichene Halle.
Ey, pass auf, du, noch ein Wort, und wir zwei gehen mal eben vor die Tür!, sagt der Typ, der Garry liebt: Ich warne dich, mach das noch mal, und du bist draußen!
Chris dreht sich um, streift mich mit einem vieldeutigen Blick. Pfiffe schwirren über unsere Köpfe hinweg. Die Stimmung verspricht großartig zu werden.
Shit, Mann, ich hab’s dir gesagt! Jetzt reicht’s!
Zuerst sehe ich nur die mächtigen, nackten Arme. Am linken hängt ein platinblondes Brigitte-Nielsen-Double, am rechten zuckt launig der Bizeps – Superman, der Gary und uns alle retten wird. Sein Eisblick hält sich nicht an Nebensächlichkeiten auf. Gleich einem Scheinwerfer, dem keine kleinste Kleinigkeit entgeht, gleitet er über die Menge der Köpfe hinweg. Etwas abseits aber wiegt sich der, der Procol Harum offenbar nicht so prickelnd findet, in den Hüften, sein halblautes Genöhle mittlerweile hinter einem festgewachsenen Grinsen verbergend.
Die Bühnenshow wird kurz mal zur Nebensache. Was für ein Kerl, dieser Garryfreund! Wappnet sich, um einem, der ihm vollkommen egal sein könnte, die Fresse zu polieren, bloß wegen ein paar hingeworfener Bemerkungen, die ihm nicht ins Weltbild passen. Immer wieder fliegt mein Kopf herum, wie die Sache sich entwickeln würde.
Die Anfangsakkorde eines Uraltsongs klingen an, werden mit tausendstimmigem Johlen in Empfang genommen. Vor uns beginnen zwei zu knutschen, zwei Frauen, wie ich eben bemerke, die eine hat einen breiten Rücken und einen rasierten Schädel, mit jedem Zungenschlag richten sich die Stoppeln auf ihren Nackenwülsten auf. Ich denke an Moritz, und es ist auch nicht schlimmer als sonst.
Auf solchen Konzerten nicht zu knutschen, ist die reinste Verschwendung. Chris beugt sich zu mir vor, brüllt mir irgendwas von Bachmotiv ins Ohr: Schon wieder ein Bachmotiv, das scheint die ja nicht mehr loszulassen!, oder etwas in der Art. Wahrscheinlich gehen ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf wie mir, aber wir sind, wie man so sagt, nichts als gute Freunde. Ganz klar, auf solchen Konzerten sollte man an einem Kerl drankleben wie diese Nielsen hinter mir und wie viele andere im Publikum auch, um mit heimlicher Hand in verbotenen Zonen zu nesteln. Ich versuche, mir Moritz’ Geruch vorzustellen, als die zwei Frauen unvermittelt in lautes Gelächter ausbrechen und Superman Garry schon wieder eine Liebeserklärung zubrüllt.
Garry schaut nicht mal auf. Er sieht wirklich verdammt scharf aus, wie nicht von dieser Welt, wahrscheinlich säuft er wie ein Loch und die Eiswürfel klirrt schon am Morgen in seinem Burbonglas, jedenfalls klingt seine Stimme so.
Ich muss mal!, bedeutet mir Chris.
Und wenn sie jetzt A Whiter Shade of Pale spielen?, gebe ich mit viel Pantomime zu bedenken.
Er stockt, wartet das Ende des Songs ab und die ersten Klänge des nächsten, die Hammondorgel dreht sich in Hirn und Gedärme, er küsst in die Luft und quetscht sich Richtung Tür durch die Menge.
Chris muss immerzu, entweder hat er ein Blasenproblem oder er trinkt auch zu viel, wahrscheinlich Letzteres. Erst nach einer ganzen Weile kommt er zurück, in seinem Mundwinkel klebt eine Zigarette, er zwinkert mir zu und schwenkt ein neues Bier über dem Kopf, während er gleichzeitig das Tabakpäckchen in seiner Jackentasche verstaut.
Chris zerlabert die Dinge nicht, die sich durch Labern auch nicht lösen lassen, darin sind wir uns ähnlich. Obwohl wir uns erst nach Moritz’ Motorradunfall kennen gelernt haben, hat er von Anfang an Bescheid gewusst, irgendjemand muss ihm das von Moritz und mir gesteckt haben. Nur ein einziges Mal hat er mich gefragt, ob ich darüber sprechen wolle. Nee, alles okay, habe ich gesagt, aber meine Stimme ist mit so einem komischen Kiekser weggebrochen. Seitdem behandelt er mich wie ein rohes Ei.
Der Typ, der Garry liebt, scheint sich wieder beruhigt zu haben und singt nun mit. Nicht nur die Hits von früher, sondern auch die neuen Stücke, alle Texte kennt er auswendig und seine blonde Brigitte auch, zumindest, was die Refrains angeht, vor keinem Titel schrecken die beiden zurück, und als Garry von seinem Klavierhocker aufsteht und anfängt, in nuscheligem Englisch das Publikum aufzumischen und ein paar Zoten zu reißen, lacht bloß eine Handvoll Leute: Die beiden, Chris und noch jemand weiter weg.
Die ersten Feuerzeuge werden hochgehalten. Keiner denkt mehr daran, die Fäuste zu ballen. Geoff Whitehorn bäumt sich, indem er ein Riff hinlegt, mitsamt seiner Gitarre auf, knickt ebenso plötzlich wieder ein und krümmt sich über das Instrument wie über ein Baby im Kugelhagel.
Darüber werden sie morgen etwas in der Zeitung bringen, mit Sicherheit. Und sie werden Whitehorns schmutzigen Bluesrock beschreiben, oder dass sich seine Gitarre hochgilfzt, es gibt da einen Musikredakteur, der solche Wörter ersinnt, und sein Muskelshirt werden sie durch den Kakao ziehen, genau wie seine Wischmoppfrisur.
Und vielleicht werde ich mal wieder eine Nacht durchschlafen nach so langer Zeit, ohne Alpträume, ohne diesen Abgrund vor mir und vor allem in mir, um am Morgen nach der Zeitung zu greifen, den Kaffeegeschmack schon vor dem ersten Schluck auf der Zunge, und vielleicht wird ja in diesem Augenblick die Sonne durch das Fenster blinken, aber das wäre wohl zu viel auf einmal, und ich werde das Bild von Garry Brooker und seinen Jungs entdecken und sie allesamt wiedererkennen, denn ich, ich bin dabei gewesen.
(Tübingen 2004)