Freitag. Aktivismus war gestern, jetzt kommt die Depri-Phase.
Der Verlust von so vielem, was einem wichtig war, macht etwas mit einem. Mit mir. Obwohl PM weitaus mehr verloren hat als ich, nämlich alles, spreche ich hier ausschließlich aus meiner Perspektive. Die alten Möbelstücke von meinen Eltern, die ihre eigene Geschichte hatten – das Verfrachten des gesamten großelterlichen Hausstandes über die grüne Grenze von Naumburg nach Lüneburg in einem Eisenbahnwaggon, den meine Oma väterlicherseits irgendwie einem Eisenbahner abgeluchst hatte -, die im Lüneburger Haus meiner Großeltern standen und dann plötzlich bei meinen Eltern in Kamen, mit denen ich aufgewachsen bin, deren Schönheit mich erwärmt hat und die nun aufgequollen und in Stücke gehauen irgendwo auf der Giga-Mülldeponie von Ahrweiler/Bad Neuenahr liegen, das löst etwas in mir aus, verdammt!, ob ich das nun will oder nicht.
Ich kann es noch nicht beschreiben. Mag die Worte dafür nicht suchen. Empfinde denen gegenüber, die in Ahrweiler immer noch ohne Strom und Wasser und von den Spenden der Bevölkerung leben, Scham. Es ist eine Leere, die nicht inspiriert, sondern unangenehm und bedrückend ist. So ähnlich wie im ersten Lockdown. Als Corona noch als konkrete Bedrohung empfunden wurde.
Was bedroht dich denn?, spöttelt das stets dialektische Ich. Der Kaffeepott steht neben mir, die Sonne lacht durch die auf Halbschatten gestellten Lamellen ins Küchenfenster rein.
Am 29. Juli, also gestern, war Erdüberlastungstag! Ab jetzt lebt die Menschheit auf Pump. Die Ressourcen sind für dieses Jahr schon erschöpft, ab sofort verbrauchen wir mehr, als die Ökosysteme der Erde erneuern können. Der kritische Punkt ist überschritten, wenn die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Emissionen (!!!!!!) nicht länger unserem Wahnsinnsverbrauch an Wäldern, Flächen, Wasser, Ackerland und Fischgründen standhalten kann.
Der Denkfabrik Global Footprint Network in Kalifornien ist die Berechnung dieses apokalyptischen Moments – dem Earth Overshoot Day – zu verdanken; Gründer und Präsident ist der Schweizer Nachhaltigkeits-Experte Mathis Wackernagel (zum Bericht). Wir Deutschen mit unserem hohen Konsum und entsprechendem Ressourcenverbrauch haben keinen geringen Anteil daran. Die einschlägigen (aber leider nicht einschlagenden) Infos kamen gestern Abend in der Tagesschau: Jeder weiß Bescheid. Jeder spricht darüber, meine Friseurin hält mir gestern weinend ihr Handy mit Bildern von den brennenden Wäldern in der Türkei unter die Nase. Ich brauche aber mein Auto, fügt sie an, ich muss ja zur Arbeit kommen. Wer könnte sie verurteilen?
Die Flutkatastrophe in Ahrweiler sehe ich als direkte Antwort auf den verheerenden Umgang, den jede und jeder Einzelne von uns unserem gemeinsamen Lebensraum Erde antut. Ich möchte sicher leben, wie wahrscheinlich jedes Lebewesen auf der Welt. Alte Sachen aus der Familie – sie stehen für Sicherheit. Für Beständigkeit. Sie sind schon immer dagewesen, lange bevor es mich gab, und der Weg führt über mich, damit sie eines Tages sicher bei meinen Kindern und noch später meinen Enkeln stehen.
Jetzt steht da nichts mehr. Diese alten, sorgsam gepflegten und behüteten Dinge – sie waren ein Stück von mir. Sie waren Vergangenheit und Zukunft in einem. Es geht um viel mehr als den Verlust von Tisch und Stuhl. Es geht um die Frage: Wo ist heute sicheres Leben?